Schlaflos? Muss nicht sein. Eine Fallstudie

Ein Bett mit blauen Kissen und einer blauen Wand.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Tagsüber müde, abgespannt und konzentrationsschwach, abends hindert das Gedankenkaroussel am Ein- oder Durchschlafen. Willkommen im Club. Laut einer Studie der DAK stieg die Anzahl der Arbeitnehmer:innen mit Schlafstörungen seit 2010 um 69% an. Jede:r 10. Arbeitnehmer:in zwischen 35 und 65 Jahren leidet unter schweren Schlafstörungen. Jede:r Vierte hilft sich mit Schlafmitteln – und das schon länger als drei Jahre! Suchtgefahr: steigend.

Auch bei Paul H.(Name geändert) ging es in diese Richtung. Der 50jährige Geschäftsführer eines internationalen Unternehmens hatte sich schon hin und wieder mit Schlafproblemen herumgeschlagen. Doch bis zum Ende der harten Corona-Welle konnte er das als „nicht so wichtig“ abzutun. Lockdown, Homeoffice und Homeschooling mit seinen Kindern hatte er als Herausforderung erlebt. Den verlangsamt Lebensrhythmus hatte er zur eigenen Überraschung als angenehm empfunden. Doch als der Termindruck wieder anzog, zunehmend Probleme mit Zulieferungen und Finanzen gemanagt werden mussten, konnte Paul plötzlich keine Nacht mehr durchschlafen. Vor dem Einschlafen wälzte er sich stundenlang im Bett, unfähig die täglichen Belastungen hinter sich zu lassen. Immer öfter musste er sich zur Arbeit zwingen, war lustlos, abgespannt und übellaunig.

Durch Schlaflosigkeit aus den Fugen geraten

Paul erlebte sich zunehmend als vergesslicher, ihm unterliefen Fehler. Keine Gravierenden, doch er befürchtete, als nächstes könne er der Firma ernsthaften Schaden zufügen. Seine Verunsicherung verstärkte die Schlafprobleme, er begann unter diffusen Ängsten zu leiden und sein soziales Leben kam weitgehend zum Erliegen. Zum Ärger seiner Familie verbrachte der einst unternehmungslustige Mann seine Freizeit überwiegend mit Netflix und unkontrollierten Essanfällen. Aus dem Glas Wein am Abend wurde schleichend eine Flasche. Auf Drängen seiner Frau begab er sich in meine Praxis.

Im Vorgespräch formuliert er folgende Ziele:

– Lebensenergie und Konzentrationsfähigkeit zurückgewinnen, die Ängste hinter sich lassen

– wieder schlafen können

– Herausfinden, warum er trotz aller objektiv positiven Lebensaspekte ständig das Gefühl hat, sein Leben sei eine leere Hülle, etwas fehle.

Nach der Aufklärung über grundlegende Maßnahmen zur Verbesserung der Schlafqualität, ergänzten wir die Gespräche zunächst um Entspannungstechniken und EMDR. Während sich die Schlafstörungen und Ängste nach wenigen Sitzungen verringerten, blieb ein kraftraubendes Gefühl der inneren Leere zurück.

Auf meinen Vorschlag hin erklärt er sich bereit, mithilfe des Biografischen Schreibens auf Spurensuche zu gehen und zu schauen, wo dieses Gefühl herkommt.

Spurensuche mit Biografischem Schreiben

Die ersten Schreibübungen fanden in der Praxis statt. Zum Einstieg erhielt er die Aufgabe, eine Metapher für sich und sein Leben zu finden. Er wählte das Bild eines ehrgeizigen Bergwanderers, der immer höhere Berge erklimmen wollte. Doch statt die Aussicht auf dem Gipfel genießen zu können, fragte sich der Wanderer am Ziel nach dem Sinn seiner Anstrengungen. Hier bot es sich an, mit verschiedenen Perspektivwechseln zu arbeiten. Ich bat ihn, den Wanderer und die Etappen seines Weges aus der Perspektive von verschiedenen Beobachtern erzählen zu lassen: Mutter, Vater, Ehefrau und einer vertrauten Person, die ihn schon lange kennt und wohlwollend beobachtet.

Bei dieser Übung wurden einerseits die Erwartungen seiner Herkunftsfamilie deutlich, andererseits Facetten seiner eigenen Interessen, die er im Laufe seines Lebens vernachlässigt hatte, weil sie mit den Erwartungen seiner Bezugspersonen kollidierten. Dieses Material konnte für eine Annäherung an die Lebensträume von Paul genutzt werden. Zu diesem Zweck beschäftigte er sich schreibend zunächst mit seinen persönlichen Werten, den damit zusammenhängenden Gefühlen und Körperempfindungen. Begleitet wurde diese Phase von intensiven Träumen, die er morgens kurz notierte und für weitere Hinweise des Unterbewusstseins heranzog. Ab einem gewissen Punkt begann er, ein Schreibjournal zu führen und täglich eine halbe Stunde zu schreiben. Dabei nutzt Paul entweder einen Schreibimpuls aus der Therapiestunde oder folgte Erinnerungen und Einfällen, die durch das regelmäßige Schreiben hervorgerufen wurden. Die jeweils nächste Sitzung eröffneten wir mit der Besprechung der jeweiligen Texte. Über die Auseinandersetzung mit seinen Körperempfindungen im Zusammenhang mit Erwartungen von anderen und an sich selbst, erinnerte er sich an Lebensphasen, in denen problematisches Essverhalten ebenfalls ein Rolle gespielt hatte. Durch die Auseinandersetzung mit seiner Ernährungsbiografie erkannte Paul schädigende Muster, die er zum Teil an seine jüngere Tochter weitergegeben hatte. Für sie verfasste er ein Märchen, das für sie beide Frühwarnsysteme und Verhaltensalternativen bot.

Schlafen ja. Aber nie wieder das Leben verschlafen!

Der Schreibimpuls Lebensträume einst und jetzt unterstützte Paul dabei, nicht nur an versäumten Chancen festzuhalten, sondern darüber hinauszudenken und zu überlegen, wie er Teile davon ins Leben integrieren könnte. Dabei halfen mehrere Besuche beim Inneren Weisen, die er in seinem Schreibjounal festhielt. Dabei verschriftlichte er ein Stück Lebensphilosophie, konnte seine Lebensentscheidungen nach dem Schema „das Gute im Schlechten“ betrachten und letztendlich für sich herausfinden, welche Schritte er einleiten kann, um seinem Leben mehr Sinn zu geben. Durch das regelmäßige Schreiben fand Paul heraus, was ihm persönlich wichtig ist. Er entwickelte einen anderen Zugang zu seinen Körpersignalen, veränderte sein Zeitmanagement so, dass er das Rudern, ein lange vernachlässigtes Hobby, wieder aufnehmen konnte. Mit den kleinen und großen Erkenntnissen und Freuden kehrte seine Lebensenergie zurück, die Schlafprobleme verschwanden vollständig. Beim jährlichen

Gesundheitscheck zeigten seine Werte eine allgemeine Verbesserung. Pauls Geschichte zeigt, wie wertvoll Schreibinterventionen in Zusammenwirken mit anderen therapeutischen Maßnahmen sein können. Wurden erst einmal grundlegende therapeutische Schreibformen erlernt, können sie von den Patienten selbstständig angewendet werden.